Alibijude

Eine Photogra­phie (Digi­tal­druck): Höhe 713,74 mm x Breite 1014,6 mm (Edition 7)
(Edition von 7: Höhe 61 cm x Breite 43 cm)

Versicherungswert 3.000 & 2.500 Euro 

Im Früh­ling 2011 nahm ich an einer Ausstel­lung im EL-DE-Haus, dem Kölner NS-Doku­men­ta­tion­szen­trum, teil: Kunst und Gedenken. Kölner Künstler/​innen mit Arbeiten zur Auseinan­der­set­zung mit dem Nation­al­sozial­ismus”. Inge­borg Drews hielt im Rahmen des Neben­pro­gramms einen Vortrag über das Leben und die Karriere meines Großonkels Wilhelm Unger, dessen Bekannte sie gewesen war. Eine Diskus­sion schloss sich an, bei der ein Zuschauer den Zeitungs­mag­naten Kurt Neven-DuMont, dessen Nazi-Vergan­gen­heit mittler­weile aufgedeckt wurde, beschuldigte, von der Unter­stützung Wilhelm Ungers — den der Besucher Alibi­jude“ nannte — prof­i­tiert zu haben.

In einem Artikel, 2006 in der Neuen Rheinis­chen Zeitung online veröf­fentlicht, schreibt Peter Kleinert, dass Kurt Neven-DuMont, der 1944 von Goebbels´ Reich­spro­pa­gan­damin­is­terium mit dem Kriegsver­di­en­stkreuz Erster Klasse mit Schw­ertern” ausgeze­ichnet wurde, in seiner:

(…) Neujahrsaus­gabe vom 1. Januar 1933 unter der Schlagzeile Auf Hitler kommt es an!“ den Nazi-Führer aufge­fordert hatte, nicht vor den Toren der Politik stehen (zu) bleiben“, sondern die Verant­wor­tung zu tragen“ und die posi­tiven Kräfte seiner Bewe­gung in die Waagschale der prak­tis­chen Politik zu werfen“.1

Kleinert hatte einen Bericht über die Recherchen von Ingo Niebel zur Neven-DuMont-Geschichte geschrieben, die enthüllten, dass Kurt nicht nur Mitglied der Nazi-Partei gewesen war, sondern dass er auch einige Häuser von Juden erworben hatte, die unter extremen Druck standen, unter Wert zu verkaufen; diese Juden wurden später deportiert oder sie konnten mit Mühe und Not aus Deutsch­land fliehen. Solche Tatsachen wurden von dem Erben dieses Reichs — Alfred Neven DuMont, der 1953 in den Verlag M. DuMont Schauberg eintrat – nicht nur über­spielt: dieser verk­lagte oben­drein die Neue Rheinische Zeitung und Niebel wegen verleumderischer“2 Behaup­tungen. Laut dem Buchrezensenten Florian Triebel ist auch der von DuMont ursprünglich zur Vertei­di­gung herange­zo­gene Manfred Pohl in seiner Publika­tion aus 2010, M. DuMont Schauberg: Der Kampf um die Unab­hängigkeit des Zeitungsver­lags unter der NS-Diktatur, zu gleichen Schlussfol­gerungen wie Niebel gelangt. 

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Im EL-DE-Haus erschüt­terte mich die Wahl des anti­semi­tis­chen Ausdrucks Alibi­jude“ durch den Seminar-Teil­nehmer. Dennoch eröffnete mir die Diskus­sion im NS-Doku­men­ta­tion­szen­trum viele Fragen. Waren die Deutschen, beson­ders die ehema­ligen Nazis, so unglaub­würdig, dass sie wenig­stens die einwilli­gende Unter­stützung von Juden brauchten, um im Deutsch­land der Nachkriegzeit zu funk­tion­ieren? War der Wunsch nach einer gehobenen Posi­tion und das Verlangen, sich in der Nachkriegskultur zu behaupten, für jüdische Über­lebende so groß, dass sie sich gezwungen fühlten, sich mit den Verbün­deten jener Krim­inellen, die für ihren Unter­gang verant­wortlich waren, zusammen zu schließen? War diese Hand, die einige Juden ehema­ligen Nazis zu reichen bereit waren, eine Form von Versöh­nung oder Verge­bung oder war es schlichte Über­leben­staktik einiger Juden, sich mit einem Volk gemein zu machen, das sie ausgestoßen hatte? Konnten sich Juden und ehema­lige Nazis in Deutsch­land nicht ohne die gegen­seitige Unter­stützung in Deutsch­land vorwärts bewegen? Wenn ich als Künst­lerin in Deutsch­land ausstelle und veröf­fentliche, bin ich auch eine Alibi­judin? 

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Nachdem er aus Nazideutsch­land nach England geflohen war, deportierten die britis­chen Behörden Wilhelm Unger als feindlichen Ausländer“ mit dem Schiff Dunera“ in ein australis­ches Internierungslager. Nach dem Krieg, den Wilhelms Eltern in There­sien­stadt über­lebt haben, und trotz der Tatsache, dass zwei seiner Schwestern — Ella und Grete — in anderen Konzen­tra­tionslagern ermordet wurden, entschied er, zurück nach Köln zurück zu kehren und sich am Wieder­aufbau der Stadt zu beteiligen. Er und mein Groß­vater Alfred haben Carepakete organ­isiert, wurden Vermit­tler zwis­chen den christlichen, jüdis­chen und anderen Gemeinden Deutsch­lands und Großbri­tan­niens. Obwohl Alfred nach seiner Flucht von den Briten auf der Insel Man interniert wurde, hat er später sowohl London wie auch Köln zu seinem Zuhause erklärt; Wills Haupt­wohn­sitz war in Köln.

Alfred Unger erhielt 1930 den Schiller­preis für ein Theater­stück, das er in Berlin geschrieben hatte; später hat er seine Karriere als Dramaturg in Deutsch­land nicht weiter verfolgt, sondern betätigte sich in England als Über­setzer deutscher Liter­atur, während er auch als europäis­cher Korre­spon­dent für verschiedene deutschsprachige Radiosender und Zeitungen arbeitete. Nicht viele jüdische Künstler aus Nazi-Europa waren emotional in der Lage, sich wieder kreativ zu betätigen, geschweige denn, sich in einem anderen Land, in einer vollkommen anderen Sprache erfol­greich zu etablieren.

Beide Unger-Brüder hatten in Deutsch­land vor dem zweiten Weltkrieg einen viel versprechenden Anfang als liter­arische Persön­lichkeiten in Deutsch­land gehabt. Dieser Lebenslauf wurde jedoch durch die Ereignisse des Krieges verhin­dert und letz­tendlich, infolge der seel­is­chen Narben, vollkommen zunichte gemacht. Alfred und Wilhelm gelang es dennoch, viele außeror­dentliche Unternehmen zu schaffen. Wilhelm war, zum Beispiel, ein Mitbe­gründer des Germania-Judaica-Museum, in Köln. Gemeinsam handelten beide Unger­brüder nach dem Krieg mit den Amerikanis­chen Behörden eine neue Lizenz für den Kölner Stadt-Anzeiger aus.

Das Medi­en­haus M. DuMont Schauberg ist inzwis­chen der viert­größte Verlag Deutsch­lands, und unter anderem auch Teil­haber der israelis­chen Zeitung Ha’aretz. Als Autor und Jour­nalist, der in den 30er Jahren Kulturredak­teur der Kölnis­chen Zeitung war, hat Wilhelm Unger während seiner gesamten Nachkriegs-Lauf­bahn für den Kölner Stadt Anzeiger” gear­beitet; seine Feuil­leton­beiträge bestanden aus Liter­atur­texten und Theaterkri­tiken. Will war eine bekannte und beliebte Kölner Persön­lichkeit, und führte regelmäßig einen Salon in seiner modernen Pent­house­woh­nung in der Vogel­sanger­strasse. Dort trafen sich Künstler, Schrift­steller und Architekten, die die Dinge des Lebens und — auch — der Kultur diskutierten.

Für ihre altru­is­tis­chen Aktiv­itäten in Deutsch­land der Nachkriegszeit wurde Wilhelm Unger und Dr. Alfred H. Unger 1969 bzw. 1983 das Große Bundesver­di­en­stkreuz verliehen. 

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Die Photogra­phie, die ich Alibi­jude genannt habe, und die ursprünglich von dem Jour­nal­isten Helmut Koch3 aufgenommen wurde, habe ich von meiner Mutter, lang vor ihren Tod 1998, über­nommen und behalten. Es ist reiner Zufall, dass ich dieses Bild über­haupt noch besitze, weil der Großteil der Fami­lien­photos verschwunden ist, als das Historische Archiv in Köln im März 2009 durch die Nach­läs­sigkeit verschiedener Behörden einstürzte. Mit dem Verlust dieses archivarischen Museums sind viele unbe­queme Belege der neuesten deutschen Geschichte zumin­dest vorläufig verloren gegangen, eine Tatsache, über die auch eine Menge öffentlicher Krokodil­stränen vergossen wurden.

Ich hatte diese bestimmte Photogra­phie bei mir behalten, weil sie die Fremd­heit jener Epoche verkör­pert – ein Zeichen der Zeit. Das Photo wurde während des Kölner Karnevals 1955 aufgenommen; meine Großel­tern Alfred und Nina Unger stehen im Abend­kleid, geschmückt mit falschen Karneval­sorden (die von meine Groß­mutter sieht wie ein David­stern aus), zur linken Seite des Bildes. Im Vorder­grund sieht man den jungen Erben des Zeitungsthrons in tradi­tionellem, pseudomit­te­lal­ter­lichem Kostüm als Karneval­prinz verkleidet. Im Mittelpunkt des Photos, vom Karneval­prinz unterge­hakt, sind meine damals über 80 Jahre alten Urgroßel­tern, Flora und Samuel Unger. Sie waren Über­lebende von There­sien­stadt, deren zwei Töchter im KZ ermordet wurden. Auf dem Bild wirken sie benommen, verloren – wo der Prinz lächelt, bleiben ihre Mienen ernst. Flora, die noch im 19. Jahrhun­dert als Kind, mit ihrer Mutter vor den russis­chen Pogromen nach Deutsch­land geflüchtet war, trägt trotz dieses Presse-Fototer­mins keine Karneval­sklei­dung nur einen einfachen Schal mit Pais­ley­muster. Diese gezwun­gene Perfor­mance ist eine Travestie.

Hinter dem Karneval­prinzen und seinem Vater fällt Wilhelm durch seine Abwe­sen­heit auf – er scheint sich zu verstecken – man sieht nur seine Stirn und den Haaransatz.

Post­skriptum Januar:
in diesem Jahr (2012), ist meine Tante Annette Pringle (geborene Felske), nach dem Tod ihres Bruders Gerd, aus den USA hierher nach Köln gereist. Sie erzählte, dass sie unter den Papieren ihres Bruders eine Kopie von demselben Photo gefunden hatte. Sie zeigte sich über­rascht über meine Inter­pre­ta­tion des Bildes – Annette, die in Boston lebt, hatte noch nicht von dem Neven-DuMont-Skandal von vor 6 Jahren gehört. Sie erzählte mir, dass die Neven DuMonts Mitgliedern unserer Familie, die sich während des Krieges in Köln versteckt hatten, sehr geholfen haben, etwas dass mir nicht bekannt war, so das ich diese komplexe symbi­o­tische Beziehung zwis­chen unsere Familie und den Neven-DuMonts, wieder revi­dieren muss.

Ich danke Dr. Jürgen Müller für die Diskus­sion und Beratung bei der Entwick­lung der beglei­t­enden Texte zu Alibi­jude.

Tanya Ury 

1 www​.nrhz​.de/​f​l​y​e​r​/beit…

2 Schaler Geschmack. Die schwierige Suche nach der historischen Wahrheit bei DuMont Schauberg in Köln – kein Fall des Presserechts. Seine Hausan­wälte von der renom­mierten Kanzlei Linklaters Oppen­hoff & Rädler schreiben in ihren Schrift­sätzen im Verfahren gegen Kieser und Kleinert von verleumderischen Behaup­tungen.“ mmm​.verdi​.de/​a​r​c​h​iv/20

3 Infor­ma­tion auf der Rück­seite des Photos: Helmut Koch. Bild­berichter­statter, Köln-Klet­ten­berggürtel 78, Fernruf: 212313 PRESSE-HAUS. 



Präsen­ta­tion

2012 (11.6) Die Juni-Online-Ausgabe von Imag­i­na­tions: Journal of Cross-Cultural Image Studies, Univer­sität von Alberta, Kanada, stellt die Künst­lerin Tanya Ury vor, mit neuen Arbeiten — Videos: Inti­macy, cement & dark room; eine Serie von 17 concrete poems, die Photogra­phie Alibi­jude, Selec­tion aus der Who’s Boss-Serie, und 8 Photos aus Soul Brothers & Sisters. Außerdem: 3 Photos von Occupy in Stras­bourg, aus der Serie Fading into the Fore­ground; und weitere 6 toned poems (Sounds, Musik & Tonmis­chung: Kasander Nilist) sowie einem Peer-Review-Inter­view (Text und Skype-Inter­view-Abschrift) mit Claude Desmarais (CA) www​.csj​.ualberta​.ca/im…
2013 (920.4) Die Photoar­beiten Alibi­jude & Stachel­draht­mann (1 & 2) werden im gedruckten Klein­form in der Ausstel­lung Postkarte und Jenseits“ durch das Projekt für zeit­genös­sische Ästhetik präsen­tiert, Kura­toren: Mirjam Kroker & Juan Toro, Insti­tuto Depar­ta­mental de Bellas Artes, Cali, Kolumbien (CO)

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